Die Mythen der Atomwirtschaft
Sollte Deutschland wieder auf Atomkraft setzen? Der Konflikt um
Erdgaslieferungen aus Russland und steigende Strom- und Ener
giepreise haben die Debatte über die Zukunft der Atomenergie
in Deutschland erneut entfacht. Aber sichert Atomenergie wirklich unsere Energieversorgung? Trägt sie zum Klimaschutz bei?
Und rechnen sich neue Atomkraftwerke?
Was hat die Erdgasversorgung mit dem Atomausstieg zu tun?
Zunächst nichts! Atomkraftwerke erzeugen Strom, keine nutzbare Wärme. Sie ersetzen deshalb weder Gas noch Öl. Gas wird in
Deutschland nur zu etwa 10 Prozent zur Stromerzeugung verwendet und dient ansonsten der Wärmeerzeugung. Erdgasversor
gung und Atomenergie sind also grundsätzlich verschiedene Bereiche der Energieproduktion. Die Diskussion um die Versorgung
mit Erdgas zeigt vor allem eines: Wir müssen unsere Energiepolitik ändern, um unabhängiger und damit auch Wettbewerbs- und
zukunftsfähig zu werden.
Atomenergie - unabhängig von Energieimporten?
Nein! Deutschland ist bei der Atomenergie zu 100 Prozent abhän
gig von Uranimporten. Nach aktuellen Angaben der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) und der Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) gibt es
weltweit etwa 4,7 Millionen Tonnen wirtschaftlich abbaubare
Vorkommen von Uran. Diese Vorräte reichen beim gegenwärtigen Jahresverbrauch noch etwa 65 Jahre. Angesichts der aktuellen Nutzungspläne ist eher von 30 bis 40 Jahren auszugehen.
Uran wäre dann schon früher erschöpft als Erdöl und Erdgas.
Wegen der Endlichkeit von Uran wurde einst der Reaktortyp des
Schnellen Brüters entwickelt, mit dem die Uranreserven vervielfacht werden können. Dabei wird zusätzlich hochgiftiges Plutonium erzeugt und anschließend verbrannt. Doch Brütertechnologie und Plutoniumwirtschaft gerieten weltweit zu einem sicherheitstechnischen und wirtschaftlichen Fiasko. Der deutsche Prototyp, der Schnelle Brüter in Kaikar, kostete rund fünf Milliarden
Euro und ging nie in Betrieb. Bezahlen mussten das die Verbraucherinnen und Verbraucher über höhere Strompreise. Aber auch
sicherheitspolitisch ist die Rückkehr zur Plutoniumwirtschaft -
zumal vor dem Hintergrund der gewachsenen terroristischen Bedrohungslage - keinesfalls vertretbar.
In einer fortschrittlichen Energiewirtschaft ist es vielmehr notwendig, weniger abhängig von Importen zu sein. Beim Erdgas
bedeutet das: Wärme muss effizienter erzeugt, sparsamer eingesetzt und stärker auf zukunftsfähige Energie gestützt werden, vor
allem auf die erneuerbaren Energien Sonne, Wind, Wasser, Biomasse oder Erdwärme. Wichtig ist zudem, die verbleibende Importabhängigkeit verlässlich zu halten: durch langfristige Verträge
und eine möglichst breite Streuung auf verschiedene Importländer und Importeure.
Schaffen Atomkraftwerke Versorgungssicherheit?
Nein! Verlängerte Laufzeiten von Atomkraftwerken oder gar
neue Atomkraftwerke schaffen keine Versorgungssicherheit. Im
Gegenteil: Sie verhindern Investitionen in moderne effiziente
Kraftwerke sowie in eine wettbewerbsfähige und innovative
Energieversorgung. Wenn die Stromproduktion aus erneuerbaren
Energien in Deutschland weiter ansteigt, taugt der alte Kraftwerksbestand mit seiner unflexiblen, zentralistischen Struktur
mittel- bis langfristig nicht mehr für die veränderten Anforderungen einer nachhaltigen Stromwirtschaft. Durch eine Renaissance der Atomkraft würde die hergebrachte Kraftwerksstruktur
mit viel Grundlast-, aber wenig Mittellast- und Spitzenlast-Kraftwerken konserviert. Das gefährdet mittelfristig die Versorgungssicherheit und ist unrentabel.
Als ebenso ertragreich wird sich die „Effizienzstrategie" der Bundesregierung erweisen. Energie soll in allen Bereichen intelligenter und sparsamer eingesetzt werden. 30 bis 40 Prozent des
Energieverbrauchs der Industrie könnten zu wirtschaftlich vernünftigen Bedingungen eingespart werden. Das heißt: Die innovativen Leistungen der Ingenieure ersetzen hier Rohstoffimporte.
So kommt moderne Technologie zum Durchbruch, und das
sichert und schafft in Deutschland Arbeitsplätze.
Das gilt auch für effiziente fossile Kraftwerke, eine weitere wichtige Säule im Energiemix der Zukunft. In den nächsten 15 Jahren
muss in Deutschland die Leistung von einem Drittel aller Kraftwerke erneuert werden: 40.000 Megawatt. Hier sind modernste
Technologien gefragt - erneuerbare Energien, hocheffiziente
Kohle- oder Gaskraftwerke und zukünftig auch kohlendioxidfreie
Gas- und Steinkohlekraftwerke. So sind auch beim Einsatz von
Kohle noch gewaltige Fortschritte möglich. Gas- und Dampfkraftwerke (GuD) blasen vergleichsweise wenig Kohlendioxid (CO2) in
die Atmosphäre, nutzen den Brennstoff Erdgas hocheffizient und
passen aufgrund ihrer hohen Flexibilität hervorragend in ein
Stromsystem mit einem hohen Anteil an erneuerbaren Energien.
Gegenüber nur 35 Prozent bei Atomkraftwerken bringen es moderne Gas- und Dampfkraftwerke auf einen Wirkungsgrad von
58 Prozent. Insgesamt gibt es hier große Möglichkeiten für Innovationen und Beschäftigung, auch weil deutsche Firmen bei Gas-
und Dampfkraftwerken führend auf dem Weltmarkt sind.
Rechnen sich neue Atomkraftwerke?
Nein! Strom aus neuen Atomkraftwerken ist teuer und unrenta
bel - und lohnt sich nur noch, wenn sehr hohe staatliche Subventionen fließen. Intensiv bemüht sich gegenwärtig beispielsweise die Atomlobby in den USA um solche Subventionen - ohne
Subventionen kein Neubau. Je Kilowatt installierter Leistung kostet ein Atomkraftwerk etwa fünf Mal so viel wie ein modernes effizientes Gaskraftwerk, das übrigens auch deutlich günstiger ist
als ein neues Kohlekraftwerk. Für die Elektrizitätswirtschaft sind
Atomkraftwerke wegen der hohen Investitionskosten - auch für
Sicherheit und Endlagerung der radioaktiven Abfälle - ein großes wirtschaftliches Risiko.
Insgesamt bedeutet die Strategie der Laufzeitverlängerung älterer Atomkraftwerke weder in den USA, wo die Laufzeit auf 60
Jahre erhöht wurde, noch anderswo den Start in eine neue Kernenergie-Konjunktur. Sie dokumentiert vielmehr den Versuch der
Unternehmen, mit alten und technisch überholten Investments
möglichst lange Geld zu verdienen. Dies trägt jedoch zur Verschleppung notwendiger Investitionen in moderne Kraftwerke
bei und könnte sich - Stichwort Versorgungssicherheit - bitter
rächen.
Sichern Atomkraftwerke Arbeitsplätze?
Atomkraftwerke haben im Vergleich mit der restlichen Energiebranche nur wenig Beschäftigte, die aber nach einer Stilllegung
noch längere Zeit wegen des Rückbaus der Anlagen beschäftigt
werden. Nach Betreiberangaben sind durch den Atomausstieg
bis zu 38.000 Arbeitsplätze in der Atomindustrie betroffen - allerdings innerhalb einer sehr großen Zeitspanne. Investitionen in
Energieeffizienz und erneuerbare Energien dagegen lösen einen
Schub für Arbeitsplätze mit Zukunft aus. Bereits im Jahr 2004
arbeiteten 157.000 Menschen im Bereich der erneuerbaren
Energien, Tendenz steigend. Und durch die von der Bundesregierung erhöhte Förderung des Gebäudesanierungsprogramms sind
250.000 gesicherte oder neu geschaffene Arbeitsplätze sowie
Investitionen von über zehn Milliarden Euro zu erwarten.
Schützen Atomkraftwerke das Klima?
Nein! Wenn das so wäre, müssten die USA ausgesprochene Klimaengel sein, denn sie betreiben weltweit die meisten Atomkraftwerke ( 103 von insgesamt 441 ). Stattdessen führen sie aber
mit 20,3 Tonnen Kohlendioxid pro Kopf und Jahr die Weltrangliste der Klimabelastung an. Das Argument, Atomkraftwerke tragen
zum Klimaschutz bei, geht auf eine verengte Sichtweise zurück.
Wird auch die Förderung der Rohstoffe, der Transport, Bau und
Unterhalt eines Atomkraftwerks, die Verteilung des Stroms und
die erforderliche zusätzliche Wärmeerzeugung berücksichtigt,
schneidet Atomenergie gegenüber anderen Formen der Energieerzeugung beim Klimaschutz oft schlechter ab.
Selbst moderne Gaskraftwerke im Verbund mit Nah- und Fernwärme können günstiger für das Klima sein, besser noch liegen
erneuerbare Energien und vor allem die effiziente Nutzung der
Energieressourcen in der Klimabilanz. Erdgas ist unter den fossilen Energieträgern zudem der klimafreundlichste: Seine Verbrennung emittiert nur etwa die Hälfte an Kohlendioxid gegenüber Braunkohle und kann künftig mehr und mehr durch Biogas
ersetzt werden. Letztlich ist ein Ausbau der Atomenergie als Ersatz für wirksamere Klimaschutzmaßnahmen allein schon wegen
der Kosten illusorisch: Um auch nur 10 Prozent der fossilen Energie bis zur Mitte dieses Jahrhunderts durch Atomkraft zu ersetzen,
müssten weit mehr als 1.000 Atomkraftwerke rund um die Welt
neu gebaut werden.
Sollten deutsche Atomkraftwerke nicht doch etwas länger laufen, angesichts ihrer Sicherheit?
Nein! Denn die ältesten und damit unsichersten Kandidaten unter den Atomkraftwerken sollen gemäß Atomausstiegsvereinbarung zuerst abgeschaltet werden: Biblis A und B, Neckarwestheim l und Brunsbüttel. Eine Laufzeitverlängerung ist nicht
zu verantworten. Diese Atommeiler waren vielleicht mal modern, als sie in den Siebzigern ans Netz gingen. Heute wären diese ältesten Atommeiler, wollte man sie neu in Betrieb nehmen,
gar nicht mehr genehmigungsfähig. Die Liste der meldepflichtigen Ereignisse ist besonders bei den älteren Kernkraftwerken
hoch. In der Sicherheitszone des Atomkraftwerks Brunsbüttel
kam es im Jahr 2001 sogar zu einer Wasserstoffexplosion - Expertenangaben zufolge hätte dieser Unfall bei nur etwas anderem Verlauf bis zur Kernschmelze mit radioaktiver Verstrahlung
führen können. Der Atomkonsens sorgt außerdem dafür, dass das
zuletzt gebaute Atomkraftwerk auch zuletzt abgeschaltet wird:
Neckarwestheim 2 - um das Jahr 2021.
Kann die Laufzeit der ältesten Atomkraftwerke überhaupt verlängert werden?
Nur in besonderen Ausnahmefällen! Sie müssen vom Bundesumweltministerium genehmigt werden. Gemäß Atomausstiegsvereinbarung hat jeder Atommeiler eine festgelegte Restmenge an Strom,
die er noch produzieren darf. Wird ein alter Reaktor früher als geplant stillgelegt, kann ein neuerer den verbleibenden Reststrom
übernehmen. Das ist so festgelegt, weil ältere Anlagen in der Regel
weniger Sicherheit bieten als neuere. Gemäß Atomgesetz können
Strommengen aber grundsätzlich nur von einem älteren auf ein
neues Atomkraftwerk übertragen werden (§ 7 Abs. lb Satz l).
Soll dennoch Strom von einem neueren Atomkraftwerk auf ein älteres übertragen werden, ist gemäß Atomgesetz eine Ausnahmegenehmigung erforderlich (§ 7 Abs. lb Satz 2). Das Atomgesetz
schreibt für einen solchen Fall vor, dass der Bundesumweltminister
ausdrücklich zustimmen muss. Allerdings darf die Übertragung
von Strommengen in keinem Fall zu Lasten der Sicherheit gehen.
Die Altanlage muss also zumindest auf dem gleichen Sicherheitsniveau wie die neuere Anlage stehen. Das hat das Energieversorgungsunternehmen (EVU), das den Antrag stellt, in einer vergleichenden Sicherheitsanalyse nachzuweisen. Die Prüfung der
Untersuchung obliegt allein dem Bundesumweltministerium.
Ist eine Laufzeitverlängerung notwendig, um auf erneuerbare Energien umzusteigen?
Nein! Diese Zeit zum Umstieg auf erneuerbare Energien wurde
bereits in den Zeitraum für den Atomausstieg einkalkuliert. Das
letzte Atomkraftwerk wird demnach voraussichtlich erst 2021 vom
Netz gehen. Allein durch die Steigerung der Stromproduktion
aus den Erneuerbaren von 2005 (rund 62 Milliarden Kilowattstunden) auf die in einer aktuellen Studie des Bundesumweltministeriums prognostizierte Leistung für 2010 (rund 85 Milliar-
den Kilowattstunden) wird annähernd der Strom ersetzt, den die
bis dahin gemäß Atomausstiegs-Vereinbarung abzuschaltenden
vier Atomkraftwerke liefern. Das Ziel des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG), bis 2010 einen Anteil von Strom aus erneuerbaren
Energien von mindestens 12,5 Prozent zu erreichen, würde damit
sogar übertroffen.
Deutschland hat in den vergangenen Jahren einen beispielhaften
Aufschwung beim Strom aus erneuerbaren Energien geschafft.
Im Jahr 2005 betrug der Anteil an der Elektrizitätserzeugung
bereits 10,2 Prozent - das ist mehr als doppelt so viel wie 1998
(4,7 Prozent). Ziel der Bundesregierung ist es, diesen Anteil bis
2020 auf mindestens 20 Prozent zu steigern. Realistisch erreichbar sind nach unseren aktuellen Prognosen sogar 25 Prozent.
Deutschland ist in diesem Bereich in vieler Hinsicht weltweit
technologisch führend, mit entsprechenden wirtschaftlichen Folgen: Die Windbranche zum Beispiel hat bei ihrer Wertschöpfung
inzwischen einen Exportanteil von 60 Prozent! Dieser Weg der
Innovation - bei konventionellen Kraftwerken wie bei den erneuerbaren Energien - soll konsequent weitergegangen werden.
Fazit
Es gibt keinen Anlass, den mit der Stromwirtschaft vereinbarten
Ausstieg aus der Kernenergie in Frage zu stellen. Er stellt geltendes Recht dar, an dem gemäß dem Koalitionsvertrag der Bundesregierung festgehalten wird. Die Zukunft liegt nicht darin, eine
Risikotechnik aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts wiederbeleben zu wollen. Sie liegt vielmehr in einer nachhaltigen
Energiewirtschaft, die insbesondere auf Effizienz und Einsparung, aber immer mehr auch auf erneuerbaren Energien basiert.
Quelle: Broschüre des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
"Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen ..."
Grundgesetz, Artikel 20 A
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